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Regionsexperiment Tempo 30

Ein Interview mit Projektleiterin Wiebke Schepelmann

Die Region Hannover und das Mobilnetzwerk wagen einen Versuch. Was bringt Tempo 30 an Ortsdurchfahrten? Warum ist das Experiment ein Novum? Welche Hindernisse gibt es?

 

Das Regionsexperiment „Tempo 30” nimmt Fahrt auf. Im Interview mit Projektleiterin Wiebke Schepelmann sprechen wir über den besonderen Versuchsaufbau, den Status Quo und die übergeordnete Bedeutung eines solchen Verkehrsexperiments.

 

Frau Schepelmann, schön, dass es mit dem Interview klappt. Um die Leser und Leserinnen abzuholen, erklären Sie das Experiment in einem Satz. 

Das Regionsexperiment „Tempo 30“ ermittelt in einem Zeitraum von drei Jahren auf ausgewählten Strecken in der Region Hannover, welche Effekte Geschwindigkeitsreduzierungen auf 30 Km/h in Ortsdurchfahrten im Hinblick auf die Lärmbelastung, die Unfallzahlen und -schwere, die Verkehre von Kfz und Rad, das Verkehrsverhalten und die Reisezeit haben.

 Skizzieren Sie bitte den Versuchsaufbau des Regionsexperiments.

Straßen auswählen

Um verschiedene Effekte von Tempo 30 in Ortsdurchfahrten der Region Hannover messen zu können, baten wir die Kommunen im August 2020 um die Einsendung von möglichen Teststrecken, also Ortsdurchfahrten bei der eine Geschwindigkeitsreduzierung getestet werden könnte. Daraufhin gingen 140 Meldungen aus der Region bei uns ein, von diesen 140 sind bereits 100 politisch bestätigt, die anderen 40 befinden sich noch in der Prüfung. 

Parallel dazu befinden wir uns derzeit beim zweiten Schritt des Auswahlprozesses. Seit Oktober letzten Jahres prüfen wir, welche Strecken sich für welche Forschungsfragen eignen. Dazu werden Daten in Hinblick auf mögliche Fragestellungen erhoben und ausgewertet. Einige Daten liegen uns bereits vor, z.B. die Unfalldatensätze, mit denen das Mobilnetzwerk arbeitet. Verkehrsdaten wie Verkehrsaufkommen und Geschwindigkeiten erheben wir bereits kontinuierlich mit eigenen Seitenradargeräten. Andere Daten und ihre Auswertungen brauchen wir noch, diese Bedarfe werden z.B. an Ingenieurbüros ausgeschrieben, die uns damit unterstützen. 

Straßen beschildern

Wenn die Straßen ausgewählt und die individuellen Forschungsfragen geschärft sind, erfolgt eine verkehrsbehördliche Anordnung, die Straßenmeisterei rückt aus und beschildert die Strecken nach und nach. Das könnte einige Zeit in Anspruch nehmen, bis alle Strecken mit Schildern versorgt sind. Daher gibt es keinen zentralen Startpunkt für alle Strecken, sondern wir starten die Beschilderung sukzessiv.

Datenerhebung

Sobald der Aufbau fertig ist, startet die Erhebung der Daten. Dafür haben wir uns einen Zeitraum von drei Jahren ausgesucht. Vergleichbare Studien haben gezeigt, dass dies eine sinnvolle Laufzeit ist, um möglichst realitätsgetreue Effekte abbilden zu können und nicht allein Effekte, die sich in einer frühen Gewöhnungsphase der Temporeduktion zeigen. Einen Teil der Datenerhebung macht die Region selbst, bei einem anderen bekommen wir Unterstützung. Die Firma „Graphmasters“, ein Mitglied des Mobilnetzwerks, hilft uns beispielsweise mit Geschwindigkeitsdaten, die Navigationssysteme ausgeben. Damit erhalten wir Informationen über die durchschnittlichen, tatsächlichen, gefahrenen Geschwindigkeiten. Im Übrigen sind die Daten anonym und datenschutzkonform. 

Datenauswertung und Empfehlung

Basierend auf den erhobenen Daten wird die Auswertung des Experiments erstellt. Die Auswertung wird uns zeigen, was Tempo 30 auf den getesteten Strecken gebracht hat. Auf dieser Grundlage lassen sich Empfehlungen aussprechen. Politische Vertretungen können mit diesen Empfehlungen arbeiten und im besten Fall kann eine Anpassung der StVO zugunsten der Einführung von Tempo 30 an Ortsdurchfahrten erarbeitet werden.

 Das bedeutet, dass nach dem Experiment keine Implementierung folgt?

Nicht direkt. Wir betreiben mit dem Regionsexperiment quasi Grundlagenforschung im Feld, um Argumente zu sammeln, den rechtlichen Rahmen für die Kommunen bedarfsorientierter zu gestalten. Wenn wir das langfristig schaffen, könnte es in Zukunft leichter sein, Tempo 30 in Ortsdurchfahrten einzuführen. Nach den drei Jahren wird die Beschilderung wieder zurückgebaut.

 Was ist die Vorgeschichte zum Experiment?

2017 gab es ein Modellprojekt des Landes, welches ebenso das Thema Tempo 30 in Ortsdurchfahren betraf. Die Resonanz der Kommunen aus der Region Hannover war sehr hoch, es sind damals etwa 40 Anmeldungen für Teststrecken eingegangen, allerdings wurde nur eine einzige für die Umsetzung berücksichtigt. Das hat uns gezeigt, dass die Kommunen großes Interesse an dem Thema Tempo 30 haben.

 Viele Kommunen im Mobilnetzwerk wünschen sich mehr Handhabe bei dem Thema. Warum ist die Umsetzung nicht einfach so möglich?

Das hat etwas mit der Gesetzeslage zu tun. Grundsätzlich gilt innerorts eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Die Kommunen können, insbesondere an klassifizierten Straßen, nur unter strengen Voraussetzungen Tempo 30 anordnen. Zudem ist dies zumeist auch nur auf kurzen Abschnitten in unmittelbaren Bereichen von „sensiblen“ Einrichtungen, z.B. Schulen, Kitas, Alten- und Pflegeheimen möglich. 

 Was hat sich geändert, weswegen Sie das Experiment nun ansetzen?

Durch die Einführung der sog. Experimentierklausel in der StVO ist es uns möglich, zeitlich begrenzte Erprobungen von Maßnahmen zu machen, die auf die Verkehrsregelung oder -sicherheit einzahlen. Seit Inkrafttreten dieser Klausel arbeiten wir an dem Regionsprojekt. 

Details zur Rechtsgrundlage lesen Sie hier.

 Welche Rückmeldungen haben Sie zu Ihrem Vorhaben erhalten?

Aktuell werden wir durch eine fachaufsichtliche Prüfung ausgebremst, die das Land angeordnet hat. Das heißt, die obere Verkehrsbehörde (Ministerium) prüft den Vorgang der unteren Verkehrsbehörde (Kommunen). Wir können unsere Vorbereitungen weiterverfolgen, nur dürfen wir noch nicht beschildern, solange das Land kein grünes Licht gibt.

 Welche Gründe könnte diese Intervention haben?

Ich könnte mir vorstellen, dass der Umfang unseres Experiments für die zuständige Behörde eine Überraschung war. Mit der Anzahl an Strecken und dem anberaumten Untersuchungszeitraum nutzen wir die Möglichkeiten der Experimentierklausel sehr stark aus. 

 Das klingt nach einer Vorreiter-Rolle, die Sie mit dem Projekt einnehmen. Ist es so?

Tatsächlich erreichen uns sehr viele Nachrichten und Feedbacks. Regionale Akteure und Akteurinnen geben uns gutes Feedback für das Handling der Situation, politische Vertretungen freuen sich, dass es in Sachen Tempo 30 einen Schritt weitergeht. Aber auch andere Landkreise wenden sich an uns und fragen nach, wie wir vorgegangen sind und wie wir mit dem Gegenwind umgehen. Das Regionsexperiment ist in dem Umfang ein Novum, uns sind bisher keine vergleichbaren Tests bekannt. Daher gibt es da auch kein Best-Practice, wie man mit den Widerständen umgeht.

Na und, wie schaffen Sie das?

Zum einen schaffen wir das mit einem guten Netzwerk, das uns beratend zur Seite steht und   mit allen Kommunen, die uns den Rücken stärken.

Zum anderen schaffen wir das mit Mut. Uns war von Beginn an klar, dass wir Neuland betreten und dass wir dazu mutig sein müssen, um voranzugehen. Nur so können wir Schritt für Schritt eine Veränderung bewirken, die die Mobilität in der Region Hannover in zukunftsfähige Bahnen lenkt. 

Frau Schepelmann, vielen Dank für das Interview und viel Erfolg weiterhin!

Das Interview führte Marie-Christine Drunat

 

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