Frau Saraval, Sie haben Geografie studiert. Was hat Sie zum Fachbereich Verkehr gezogen?
Ich bin in Berlin groß geworden. Im Grunde braucht man dort gar kein Auto. Meine Familie hatte auch keines. Ich habe mich damals aber immer gefragt, warum der Autoverkehr dennoch das Dominierende im Stadtbild ist. Für mich hatte das nur Nachteile, schlechte Luft und auch einfach wenig Raum für andere Dinge. Vor allem parkende Autos nehmen unglaublich viel Platz weg. Das hat mich schon immer gestört.
Und Sie sind angetreten, das zu ändern?
Im Grunde, ja (lacht). Auch wenn mein Lebensmittelpunkt jetzt in Hannover ist, ist die Situation ja vergleichbar. Es braucht die Dominanz des Autos einfach nicht. Ich möchte ein faires Nebeneinander verschiedener Mobilitätsarten. Seit mittlerweile 10 Jahren arbeite ich im Fachbereich Verkehr bei der Region Hannover – und bin genau da, wo ich sein will: in der Verkehrsentwicklung. Hier kann ich die Verkehrswende mitgestalten. Das ist hoch spannend. Jeden Tag.
Das glaube ich. Mehr Zeitgeist geht ja fast nicht. Welchen Platz hat hier das Mobilnetzwerk Hannover?
Wir haben das Mobilnetzwerk 2017 ins Leben gerufen. Auslöser war eine sehr umfangreiche Unfallanalyse für die Region Hannover. Die hat aufgezeigt, dass die Unfallzahlen auf einem sehr hohen Niveau stagnieren – ein deutliches Indiz dafür, dass die bisherigen Maßnahmen wie Umbauten oder einzelne Kampagnen nicht ausreichen. Wenn wir eine höhere Verkehrssicherheit wollen, braucht es neue Wege.
Verstehe. Das könnten Sie auch im Fachbereich realisieren, oder? Warum braucht es ein neues Netzwerk?
Neue Wege gestalten sich am besten mit neuen Perspektiven. Im Mobilnetzwerk sitzen daher nicht nur die bekannten Akteurinnen wie Polizei, ADFC oder die Verkehrswacht. Nachhaltige Mobilität und Verkehrssicherheit, das ist ja nicht nur ein Fachthema, sondern das geht uns alle an. Jeder hat dazu eine Meinung und eigene Ideen. Genau das ist der Ansatz des Mobilnetzwerkes: Möglichst viele Perspektiven und Ideen einzubringen. Deswegen haben wir beispielsweise auch Akteurinnen aus dem Bereich Stadtteilkulturarbeit, Wissenschaftlerinnen oder auch Menschen, die beispielsweise Stadtmöbel bauen, im Netzwerk.
Wo sehen Sie denn eine Verbindung zwischen Stadtmöbeln und Verkehrssicherheit?
Das hat mit einem Hochsitz an einer Kreuzung zu tun.
Oh, das hört sich nach einer guten Geschichte an. Erzählen Sie sie uns?
Gern (schmunzelt). Wir haben damals einen Hochsitz gebaut, so wie man ihn aus dem Wald kennt. Den haben wir an eine Kreuzung gestellt. Wir haben uns auf den Hochsitz gesetzt. Auf den Kopfhörern ein Hörspiel. Und dann haben wir beobachtet. Was passiert an dieser Kreuzung? Wir sind in die verschiedenen Rollen der einzelnen Verkehrsteilnehmerinnen geschlüpft. Schließlich ist jeder von uns nicht nur Fußgängerin oder nur Autofahrerin. Mit diesem Hochsitz haben wir das eigene Verhalten reflektiert und unsere Perspektiven geschärft.
Spannend. Und wann kommen die Stadtmöbel?
Die ergeben sich ziemlich schnell, wenn du mit den Akteurinnen vor Ort ins Gespräch kommst. Was haben Anwohnerinnen für Perspektiven? Wo liegen ihre Bedürfnisse? Welche Aspekte wollen sie einbringen? Da merkst du, die Menschen wollen den Raum anders gestalten, sie wollen Flächen für gesellschaftliches Leben zurückerobern.
Das klingt nach mehr als nur Verkehrssicherheit.
Stimmt. Das Mobilnetzwerk hat sich weiterentwickelt. Wir haben schnell gemerkt, dass bei vielen Aktionen, die wir starten, nicht allein die Verkehrssicherheit eine Rolle spielt, sondern auch Themen wie Verkehrswende, eine bessere Lebens- und Aufenthaltsqualität oder Klimaschutz dazu gehören. Deswegen haben wir das Themenspektrum unseres Netzwerkes erweitert. Verkehrssicherheit spielt weiterhin eine wichtige Rolle, aber über allem steht, dass wir die Verkehrswende vorantreiben wollen. Die Verkehrssicherheit ist dabei natürlich ein wichtiger Aspekt.
Wie arbeitet das Mobilnetzwerk, und wo sehen Sie Ihre Rolle?
Das Mobilnetzwerk hat die Aufgabe, die verschiedenen Akteurinnen miteinander zu vernetzen. Wir bieten verschiedene Formate an, um in den Austausch zu gehen, Projekte zu initiieren und gemeinsam voneinander zu lernen. In sogenannten Innovation Journeys gehen wir beispielsweise auf eine virtuelle Reise, um uns gute Praxisbeispiele anzusehen. So waren wir virtuell in Zürich oder zum Thema Radverkehr in Münster. Dieser Wissenstransfer ist ein wichtiger Gedanke unseres Netzwerkes. Daneben gibt es noch den sogenannten „Touchpoint-Mobilitätswende“, bei dem wir in einen direkten Erfahrungsaustausch mit Entscheidernnen gehen. Wir waren hier beispielsweise in Hamburg, im Stadtteil Ottensen. Dieser Stadtteil wurde für den Autoverkehr gesperrt.
Wir gehen gezielt in den Austausch mit den Kommunen, nehmen Impulse und Ideen auf und helfen bei der Umsetzung vor Ort. Viele Kommunen kommen beispielsweise auf uns zu, um gemeinsam ein Stadtexperiment zu realisieren. Im Moment mein klarer Projektfavorit.
Warum?
Das ist einfach ein tolles Format. Du kannst temporär etwas ausprobieren, das es vorher noch nicht gegeben hat. Dabei lernst du eine Menge, holst Stimmungsbilder ein und kannst am Ende evaluieren, ob man das tatsächlich dauerhaft umsetzen kann. Du entscheidest damit sehr lebensnah, nicht am Reißbrett. Diese Form des Gestaltens macht mir besonders Freude. Bei solchen Stadtexperimenten werden übrigens auch Stadtmöbel gebaut – mit Hilfe unserer Netzwerkpartnerinnen.
Mit welchem Ziel agiert das Netzwerk?
Wir stellen im Fachbereich Verkehr aktuell den Verkehrsentwicklungsplan 2035 auf. Der sogenannte „VEP“ enthält Maßnahmen, die es für eine Verkehrswende in der Region Hannover braucht. Wir wollen als Netzwerk mit all unseren Partnernnen den CO2-Ausstoß im Verkehrssektor bis 2035 um 70 Prozent reduzieren. Wir wollen mehr Platz für lebenswerte Straßenräume, wir wollen attraktivere, sichere Straßen, damit wir die Nahmobilität fördern können. Wir möchten den Rad- und Fußverkehr verdoppeln, und wir wollen, dass die Mobilität in Stadt und Land in Zukunft viel flexibler und vernetzter agiert.
Das ist eine ganze Menge…
Stimmt. Und genau diese Menge braucht es auch. Das Mobilnetzwerk möchte in diesem Jahr mit Beschluss des VEP ein Bündnis für die Verkehrswende ins Leben rufen, um diese Maßnahmen gemeinsam umzusetzen.
Welche Unterstützung braucht es dafür?
Es braucht vor allem Entscheidungsträgerinnen, die mutig sind und auch mal unangenehme Wege gehen. Motivation ist super, dazu ist jedoch auch eine große Portion Durchhaltevermögen wichtig, um mit Widerständen umzugehen. Es braucht einen tragfähigen Konsens, um Projekte wirklich nachhaltig umzusetzen.
Was würden Sie denn der Politik gerne mitgeben?
Im Grunde haben sich alle demokratischen Parteien die Verkehrswende auf die Fahne geschrieben. Der Weg dürfte also frei sein für ein mutiges Voranschreiten.
Woran hapert es denn Ihrer Meinung nach in Sachen Mut?
Daran, Gegenwind auszuhalten. Wenn Zonen für den Autoverkehr gesperrt werden, dann kommt das nicht nur gut an. Das Thema Autoverkehr ist ein sehr sensibles Thema in unserem Land. Politikerinnen wollen hier einfach niemanden verschrecken. Ich denke, ein ganz wichtiger Baustein für den Erfolg der Verkehrswende ist Kommunikation. Es ist wichtig, die Vorteile hervorzuheben – nicht den Verzicht. Darin sehe ich auch eine Kernaufgabe des Mobilnetzwerks.
Sie sind jetzt vier Jahre unterwegs. Worauf sind Sie besonders stolz?
Ich bin zunächst sehr stolz darauf, dass wir uns als Netzwerk hier in der Region Hannover etabliert haben. Wir sind auf einem guten Weg, allen 21 Kommunen ein überzeugendes Angebot machen zu können. Ich freue mich über die Stadtexperimente, die einige Kommunen in der Region Hannover mit unserer Unterstützung durchgeführt haben und die wir dieses Jahr noch durchführen werden. Mit diesen Experimenten wird die Verkehrswende in der Region Hannover sichtbar. Zu zeigen, wie Verkehrswende auch in kleinen und mittleren Kommunen funktioniert, macht mich stolz. Und allem voran bin ich stolz auf mittlerweile mehr als 40 Institutionen, die bei uns Mitglied sind.
Gibt es ein Vorbild für Sie? Was würden Sie gern genauso machen?
Ich bin sehr gern in Wien. Diese Stadt steht für eine besonders hohe Lebens- und Aufenthaltsqualität. Ich finde es großartig, wie man die größte Einkaufsstraße Österreichs in eine Begegnungszone umgewandelt hat. Diese Hauptstraße wurde für den Autoverkehr gesperrt, Rad- und Fußverkehr haben deutlich zugenommen. Es ist einfach wunderschön, dort spazieren zu gehen. Es gibt Sitzmöglichkeiten – Begegnungen wie in einem Straßen Café. Und das in einem klassischen Autofahrerland.
Klingt gut. Ich bin vielleicht im Sommer in Wien. Dann schaue ich mir das mal an. Wie sieht denn ein normaler Tag für Sie aus?
(lacht) Wenn du mit Menschen arbeitest, gibt es keine Routine. Die meiste Zeit des Tages bin ich in Gesprächen. Der Austausch zwischen den verschiedensten Akteurinnen ist ein ganz entscheidender Bestandteil für den Erfolg unserer Arbeit. Stadtexperimente vor Ort, eine gemeinsame Maßnahmenkonzeption oder auch die Evaluation eines Experimentes – das sind nur ein paar Punkte, die mich erwarten, wenn ich morgens aufstehe.
Wie bewegen Sie sich eigentlich selbst am liebsten fort?
Ich fahre am liebsten Bus und Bahn. Wir haben ein super gutes ÖPNV Angebot in Hannover. Die Region Hannover ist nun sogar Vorreiter für sogenannte On-Demand-Verkehre im Umland. Dieses neue flexible ÖPNV Angebot gestaltet den etablierten Linienverkehr noch komfortabler durch die Buchung per App. Solche Angebote kennt man bisher eher aus städtischen Räumen. Mit unserem Pilotprojekt „Sprinti“ leben wir diese Mobilität jetzt auch in ländlichen Gebieten. Das Projekt wird regelmäßig evaluiert. Wir befragen die Menschen vor Ort und bessern mit Expertinnen nach. Genauso wünsche ich mir die Zusammenarbeit für eine Verkehrswende in der Region Hannover. Schließlich werden wir die Ziele nur gemeinsam erreichen. Und genau für dieses engagierte Miteinander steht das Mobilnetzwerk.
Melanie Saraval, danke für die spannenden Einblicke ins Netzwerk!