Redaktion: Herr Kamensky, Sie bezeichnen sich selbst als Utopist? Suchen Sie nach der besten Verfassung des Staates – wie Thomas Morus in seinem Buch im Mittelalter?
JK (schmunzelt): Nicht ganz. Aber so richtig weit weg ist es eigentlich nicht. Morus hat auf Missstände hingewiesen, indem er ein Ideal zeichnet. So mache ich es im Grunde auch. Meine Insel Utopia sind unsere Straßen. Überall auf der Welt. Und ich zeige, wie schön diese Räume, in denen wir leben, eigentlich sein können. Es geht dabei nie darum, einen Entwurf zu machen. Die Qualität der Utopie besteht für mich darin, Kontraste zum Jetzt sichtbar zu machen.
Redaktion: Dafür fliegen Autos durch die Luft?
JK: Genau. Indem Autos den Raum verlassen, wird deutlich, wie viele dort eigentlich waren. Gleichzeitig verschwindet ein riesiger Schilderwald, der uns heute ganz selbstverständlich begleitet. Wenn das alles weggeflogen ist, dann wird auf einmal ganz viel Platz frei, und dieser Platz ist unser Möglichkeitsraum. Dabei bewege ich mich bewusst im Raum der Kunst. Ich muss mich nicht an Regeln halten. Und genau dadurch kann etwas deutlich werden. Ich kann den Menschen zeigen, wie sie heute leben. Ich kann ein Bewusstsein dafür entwickeln. Und ich kann ihnen gleichzeitig vor Augen führen, was das für ein Irrsinn ist – und wie schön wir es gemeinsam haben könnten.
Redaktion: Und dann? Was passiert, wenn die Menschen Ihre Utopie gesehen haben?
JK: Im Grunde stehen sich dann These und Antithese gegenüber.
Redaktion: Ui, jetzt wird’s akademisch…
JK (lacht): Nein, eher spannend… Jetzt gibt es die These „Wir leben in autozentrierten Städten. Das ist die Mobilität unserer Wahl.“ Und die Utopie macht eine Antithese auf: „Wir leben in menschenzentrierten Städten. Unsere Mobilität ist eine ganz andere.“ Und aus diesem Kampf zwischen These und Antithese kann sich eine Synthese entwickeln.
Redaktion: Heißt?
JK: Dann können Menschen anfangen, konkrete Ideen zu entwickeln. Sie können anfangen zu planen. Erste Quartiere anders denken. Räume zurückgewinnen.
Redaktion: Wie sind Sie denn darauf gekommen, so etwas zu tun?
JK: Ich war lange bei St. Pauli als Art Director. Dann kam die Pandemie, und ich hatte plötzlich Zeit. Ich habe mir Bücher geschnappt und bin auf die Parkbank gegangen. Ich habe gelesen. Ich saß unter Bäumen. Ich habe auf die Elbe geschaut. Ich bin zur Ruhe gekommen. Ich wollte meine Stärken nutzen und etwas tun, was mir Freude macht und was mir wichtig ist. Ich habe an ein älteres Projekt von mir angeknüpft, wo ich historische Bilder mit der Gegenwart verbunden und Collagen gebaut habe. Und vor der Tür hatte ich vollkommen leere Straßen. Eine prima Malvorlage – quasi eine Leinwand, auf der ich gestalten konnte. Da spürte ich sofort eine Riesenenergie.
Redaktion: Und daraus wurde eine Geschäftsidee?
JK: Ein Geschäft ist das für mich auf keinen Fall! Ich freue mich darüber, dass es Organisationen gibt, denen meine Utopien helfen und die mich dafür unterstützen. Mein erster Auftrag kam aus Österreich, die Initiative „Platz für Wien“. Seitdem gestalte ich Utopien auf der ganzen Welt. Das freut mich sehr. Wichtig ist mir jedoch immer, dass ich als Künstler unabhängig agiere. Meine Utopien sollen Menschen helfen, ihre eigene Vorstellungskraft zu inspirieren. Es geht mir nicht darum, irgendetwas Spaßiges und Gefälliges zu gestalten.
Redaktion: Warum müssen wir „Vorstellungskraft“ wiederbeleben? Ist die nicht bei allen da?
JK: Eben nicht. Wir können beobachten, wie unsere Vorstellungskraft rapide abnimmt. Das ist ein echtes Problem. Uns kommt die Fantasie abhanden. Und die brauchen wir ganz dringend, um unsere Zukunft zu gestalten. Weil wir uns eben vorstellen müssen, dass es wirklich ganz anders sein kann. Und es wird auch ganz anders sein müssen. Dafür möchte ich Vorstellungskraft trainieren.
Redaktion: Und haben Sie das Gefühl, dass das funktioniert?
JK: Das Gefühl habe ich, ja. Es kommen Leute auf mich zu, entweder im digitalen oder auch im öffentlichen Raum. Sie erzählen mir, dass sie anders auf die Straße vor ihrem Haus schauen. Vor unserem Büro haben wir einen Bildschirm aufgestellt, auf dem die Clips laufen. Und Kindergarten- und Schulkinder, auch Erwachsene, halten dort an. Ich sehe ihre Augen, ich sehe, wie sie strahlen. Und dann spüre ich eine große Hoffnung – eine Hoffnung darauf, dass sie es anders machen als wir. Und auch darauf, dass wir Erwachsenen heute schon etwas anders machen.
Redaktion: Was gehen Sie als nächstes an?
JK: Ergänzend zu meinen Videos, zu meiner Aktivität im digitalen Raum, möchte ich noch mehr in den öffentlichen Raum – dorthin, wo die Menschen auch sind. So entwickeln sich gerade schöne Kooperationen mit Museen, so dass wir gemeinsam Ausstellungen und Führungen planen. Damit kann ich nochmal ganz andere Menschen mit meinen Utopien erreichen.
Redaktion: Und Ihre ganz persönliche Utopie? Was möchten Sie mir in einem Jahr erzählen?
JK: Das ist eine schöne Frage, habe ich noch nie bekommen. Okay… In einem Jahr erzähle ich Ihnen, dass ich als Utopist nicht mehr gebraucht werde. Ich habe meine Aufgabe beendet. Die Menschen haben ihre Vorstellungskraft ausreichend trainiert. Sie haben verstanden, dass sie ihre Räume zurückgewinnen können. Und ich mache eine Ausbildung zum Gärtner. Ich pflanze Bäume und packe handfest mit an, wenn wir unsere Räume umgestalten.
Vielen Dank für das spannende Gespräch, Jan Kamensky.